23.10.2021: Fortgehen und Ankommen – 60 Jahre Migration nach Hamm

Fortgehen und Ankommen – Musik, Fotos, Filme und Austausch zu 60 Jahren Migration nach Hamm
Samstag, 23. Oktober 2021, 16:00 bis 19:00 Uhr,
Gerd-Bucerius-Saal (Korrektur: Schulungsraum 2.051, im HvK-Forum Hamm)
Platz der Deutschen Einheit 1, 59065 Hamm

Im Herbst 2021 jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum sechzigsten Mal. Die Migration, besonders in die Industriezentren in Westdeutschland, prägt nach wie vor nicht nur Kultur, Bevölkerungsstruktur und Stadtbild im Ruhrgebiet, sondern mit diesen Migrationserfahrungen sind auch ganz persönliche Geschichten verknüpft. Geschichten, die vom Verlassen einer Heimat und vom Zusammenfinden neuer Gemeinschaft erzählen.
An diesem Abend möchten das IREV-Institut (Institut für Religion und Ethik), das Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung (FUgE) sowie die Werkstadt für Demokratie & Toleranz Hamm zurückblicken auf die Auswirkungen in Hamm, die Erfahrungen von Menschen, die in Hamm ein Zuhause gefunden haben und von den Herausforderungen, vor denen die Migrationsgesellschaft in Hamm steht.
Besonders in den Industriezentren Westdeutschlands prägt die Migration aus aller Welt die Kultur, Bevölkerungsstruktur und das Stadtbild, so auch bei uns im Ruhrgebiet. Mit der Migration sind jedoch auch ganz persönliche Geschichten verknüpft. Geschichten, die vom Verlassen einer Heimat und vom Zusammenfinden neuer Gemeinschaften erzählen. Selahattin Sevi, Fotograf mit türkischen Wurzeln, hat sechs Migranten aus aller Welt, die in Hamm leben, porträtiert (v.l.n.r.): Dilek Dzeik-Erdogan, Osman Bol, Yakup Yalcinkaya, Masoumeh Hossein, Muhammad Waqas und Oumar Diallo.

Dilek_Dzeik-Erdogan Osman_Bol Yakup_Yalcinkaya
Masoumeh_Hossein Muhammad_Waqas Oumar_Diallo
Ein kurzer Doku-Film, Foto-Präsentation und kleine Statements sollen eine Erinnerungskultur in Bezug auf Migration sensibilisieren. Wir laden dann die Gäste zu einem Austausch mit Kunst und Kultur ein.

Kurzbericht

protagonisten-60-jahre-igration-nach-hamm Hauptprotagonisten/innen der Veranstaltung „60 Jahre Migration nach Hamm“

Mit rund 50 Gästen und einem abwechslungsreichen Programm ging am Samstag, 23. Oktober, im Heinrich-von-Kleist-Forum die Veranstaltung „60 Jahre Migration nach Hamm“ erfolgreich zu Ende. Die Organisatoren, FUgE (Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung), IREV (Institut für Religion und Ethik) sowie die Werkstadt für Demokratie & Toleranz, waren mit dem Austausch sehr zufrieden, der von Dr. Karl . Faulenbach moderiert wurde. Bei der Begrüßung ging die Bürgermeisterin Monika Simshäuser auf die Geschichte der Bergbaufamilien in den Zechen Sachsen und Heinrich-Robert aber auch der Frauen ein, die häufig als Reinigungskraft nach Hamm kamen.
Es standen die musikalische Darbietung von Joseph Mahame aus Uganda und die Statements von Muhammet Mertek und von Dilek Dzeik-Erdogan im Mittelpunkt der Begegnung. Zudem gab es die Fotos von Selahattin Sevi zu sehen, die sechs Bürger und Bürgerinnen der neuen Generation Hamms, unter ihnen drei Geflüchtete aus Afghanistan, Pakistan und Guinea, mit ihren Biographien portraitierten.
Der Ausspruch von Max Frisch „Wir riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen“ war ein immer wiederkehrender Aspekt der gesamten Veranstaltung, die für ein respektvolles Miteinander in unserer Stadt warb und eine vielfältige Erinnerungskultur der Migration nach Hamm zum Thema machte.
Die Veranstaltung fand im Rahmen der Interkulturellen Woche Hamm und mit der Unterstützung des Kulturfonds der Stadt Hamm sowie des Programms für interkulturelle Öffnung im Regierungsbezirk Arnsberg statt.

Ablaufplan und Statements:
16:00    Musik mit Joseph Mahame
16:15    Eröffnungsrede: Monika Simshäuser (Hamm-Bürgermeisterin)

foto_muhammet_mertek 16.25    Film: Ein Gastarbeiter untertage
16:40 Statement von Muhammet Mertek (Buchautor und Lehrer)
Siehe kurze Version hier
=>2021-10-23_Kurze_Version_Muhammet_Mertek.pdf
Siehe Vollversion hier
=>2021-10-23_Mertek_60_Jahre_Migration_Vollversion.pdf

Foto_Dilek_Dzeik-Erdogan 16:55 Statement von Dilek Dzeik-Erdogan (Richterin aus Hamm)
Siehe kurze Version hier
=>2021-10-23_Kurze_Version_Dilek_Dzeik-Erdogan.pdf
Siehe Vollversion hier
=>2021-10-23_Dzeik-Erdogan_60_Jahre_Migration_Vollversion.pdf

17:10    Musik mit Joseph Mahame (Musikpädagoge aus Uganda)
Fotos über Migranten und Besichtigung der Plakate mit Infos
17:30    Austausch im Plenum
18:00    Musik mit Joseph Mahame (Musikpädagoge aus Uganda)
Moderation:
Dr. Karl A. Faulenbach (Kulturdezernent der Stadt Hamm a.D.)

Fotos von Selahattin Sevi
Selahattin Sevi wurde 1971 in Bursa geboren, wo er auch Abitur machte. Er studierte von 1990-94 an der Fakultät für Kommunikationswissenschaft der Universität Marmara in Istanbul. Er arbeitete als Foto-Editor bei den großen Zeitungen der Türkei. 
Er leitete das Editorial vom Almanach „Fotos, die Zeitzeuge sind“ und führte überdies das große Foto-Projekt „Zeit in der Türkei“, an dem renommierte Fotographen aus 25 Ländern teilgenommen haben. Im Rahmen dieses Projektes veröffentlichte er ein Album und ein Buch mit Interviews mit den Protagonisten/innen. Dieses Album wurde in 13 Städten in der Türkei und in sieben Ländern der Welt ausgestellt. 
In Photo-Festivals in Bursa und Antalya war er als Kurator tätig. Im jährlichen Festival Visa Pour L’image für Photo-Journalismus in Perpignan (Frankreich) war er fünf Jahre lang als Jury-Mitglied tätig. 2015 wurde er vom türkischen Journalistenverband für seine Fotos über Flüchtlinge als Forschungsjournalist ausgezeichnet.  Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Derzeit führt er das Editorial des einzigen Online-Portals für Fotokultur www.nostosphotos.com




Oumar_Diallo Oumar Diallo (Sozialarbeit-Assistent und Reinigungsfachkraft)
Ich heiße Oumar Diallo und komme aus Guinea. Nach einem langen Fluchtweg über Nordafrika und Marokko kam ich vor sechs Jahren nach Deutschland. Einige Zeit später habe ich das Elisabeth-Lüders-Berufskolleg besucht und eine Ausbildung als Sozialassistent 2018 absolviert. Seit 2019 arbeite ich bei der ASH, also der Stadt Hamm, wo ich sehr zufrieden bin.
Ich bin zudem bei FUgE aktiv, wo ich als Bildungsreferent ehrenamtlich und auf Honorarbasis regelmäßig unterwegs bin. Ehrenamtlich habe ich mich auch bei der Hammer Tafel und dem Seniorenzentrum Sankt Josef in Hamm eingebracht.
Hamm ist für mich eine zweite Heimat geworden, da ich hier sehr wichtige Menschen getroffen habe, die mich auf einen guten Weg gebracht haben. Vieles hat diese Stadt mir gegeben. Ich bin in Hamm zuhause, was nicht selbstverständlich ist. Ich fühle mich hier wohl.
Das Leben meint es inzwischen gut mit mir.

Diallo.

Osman_Bol Osman Bol (Künstler)
In den jungen Jahren war schon mein Wunsch Künstler zu werden ausgeprägt. Da mein Taschengeld sehr begrenzt war, habe ich viele Jahre mit dem Zeichnen verbracht. Als ich dann kleine Aushilfsjobs hatte, habe ich mir Farben leisten können und viele Teppiche versaut, weil ich auf dem Boden gemalt habe. Viele Jahre vergingen mit dem Zeichnen und Malen. Da es damals keine Jugendkunstschule oder ähnliches gab, hatte ich keine Möglichkeit vieles dazuzulernen. Somit habe ich mir die Techniken alles selbst beigebracht. Ich habe eine Tischlerlehre beendet und das einige Jahre ausgeübt. Ich war natürlich nicht glücklich bis ich die Entscheidung traf nach New York zu gehen. Ich brauchte eine Veränderung in meinem Leben.
Durch viele Galerien und Museumsbesuche traf ich die Entscheidung, mich als freischaffender Künstler selbständig zu machen. Nach meiner Rückkehr aus New York folgte allerdings zuerst eine Schulausbildung zum Fremdsprachenkorrespondenten. 1996 war es dann so weit, dass ich mich als Freischaffender Künstler selbständig machen konnte.
Und nun zu meinen Bildern. Warum male ich mich selbst in den letzten Jahren? Die meisten Künstler, ob in der Malerei, Musik, Tanz oder in Schrift wollen sich ausdrücken. So tue auch ich es. In meinen Bildern kommt New York des Öfteren vor, weil diese Stadt einfach durch ihre Vielfalt interessant ist. Mit der Serie Rückblicke habe ich im Jahre 2000 angefangen: Der Tod eines Freundes 2011 und eine Krankheit in der Familie hat mich sehr erschüttert. Um all das zu verarbeiten war die Malerei eine gute Therapie für mich. Es waren die persönlichsten Bilder, die ich in dieser Zeit gemalt habe: Sehnsüchte, Urlaube und meine liebsten Freunde spielen in meinen Bildern auch eine große Rolle. Somit entstanden die Bilder, die mich beschäftigt haben. Da die Geschehnisse zurücklagen, nenne ich meine Bilder Rückblicke.
Projekt Bergmänner im Ruhrgebiet:
Aus meiner Geschichte heraus, der ich als Sohn türkischstämmiger Einwanderer als zweijähriger Junge nach Hamm gezogen bin, reift seit einiger Zeit die Idee in mir, dem Beruf meines Vaters Tribut zu zollen, der 15 Jahre in Zechen arbeitete. Momentan arbeite ich mit Schülern an vier Bergmännern, die in unseren Stadtteilen in Hamm angebracht werden sollen. Mir ist es wichtig, die Erinnerung an die Leistung der Bergleute, nicht nur wach zu halten, sondern auch entsprechend zu würdigen. In Anlehnung an verschiedene andere Projekte, die ich in den letzten Jahren in der Stadt Hamm und Umgebung realisiert habe, sollen bis zu 6 m hohe, auf entsprechend imprägnierten, witterungsbeständigen Platten Bilder von Bergmännern entstehen, die tatsächlich lebende oder mittlerweile verstorbene Personen abbilden. Die fertigen Exemplare sollen an entsprechenden Orten, ehemaligen Zechen, im jeweiligen Sozialraum aufgehängt werden. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Jugendlichen bei der Erschaffung unterschiedlicher Kunstwerke strebe ich an, auch in diesem Projekt junge Menschen aus den jeweiligen Sozialräumen in die Arbeit einzubeziehen.

Masoumeh_Hossein Masoumeh Hosseini (in der Ausbilng zu Krankschwerster)
In Afghanistan:
Wir wohnten in einem Dorf namens Chaune, das zum Landesteil Kandahar gehört. Von der Hauptstadt Kandahar bis Chaune fährt man ca. drei Stunden mit dem Auto. Meine Schulbildung in Afghanistan war mit Hilfe meines Onkels Amir möglich, der bei uns zu Hause wohnte und uns unterrichtete. Es war damals schon verboten, dass Mädchen in die Schule gehen. Erst in Deutschland konnte ich in die Schule gehen.
In Deutschland erhielt ich 2016-2018 den B2-Sprachkursniveau bei der VHS Hamm, im August 2018-2019 den Hauptschulabschluss den Hauptschulabschluss beim ELBK Hamm. Zwischen August 2020 bis Juli 2021 erreichte ich den Mittlerer Schulreife (Realschulabschluss).
Ehrenamtlich aktiv bin ich beim Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung e.V. (FUgE Hamm) sowie bei der Aktionsgemeinschaft für afghanische Flüchtlinge e.V, wo ich Schatzmeisterin und Stellvertretende Vorsitzende bin.
Eshagh Hosseini ist mein Ehemann. Er hatte keine Schulbildung in Afghanistan. In den Jahren 2020-2021 schaffte er den B1-Sprachkurs. Er arbeitet jetzt als Maler bei der Fa. Johann im Rahmen von Minijobs.
Geheiratet haben wir im Frühling 2014 in Chaune und lebten wir ca. halbes Jahr in Mentagh, zuerst im Haus meines Mannes Eshagh Hosseini, nämlich im Haus seiner Mutter, in Mentagh.
Bis zu unserer Flucht arbeitete er, Eshagh, als Maurer und Maler in den nah liegenden Dörfern.
Ende Juli 2015 hat die gesamte Familie die Entscheidung getroffen, das Land zu verlassen. Wieso? Wir haben ernsthaft Angst vor den Taliban bekommen.
Eshagh und meine beiden Schwager, Ali und Ghayoum, die Ehemänner meiner Schwerster, arbeiteten damals in Tamasan, die nicht in der Nähe von Chaune war. Nach der Arbeit als Straßenbauer mussten sie dort übernachten . Aus dem Bündnis von Dörfern aus dieser Region haben Eshagh und meine beiden Schwager Geld bekommen. Nachdem man bzw. der Chef des Dorf-Bündnisses von den Bewohnern Geld der Dörfer gesammelt hat, erhielten Eshagh, Ali und Ghayoum einen Lohn.
Es gibt für diese Zahlungen keine Quittung. Gegen diesen Straßenbau waren die Taliban. Die Taliban gingen davon aus, dass Eshagh und meine Schwager für die Polizei bzw. die Behörde aus Chaune arbeiteten und Informationen über das Dorf Tamasan und die Aktivitäten der Taliban in dieser Region weitergaben. Ende 2014 erhielt mein Schwager, Ghayoum, bzw. mein Vater, Tehar Hosieni, einen Brief der Taliban, in dem stand, dass Eshagh und meine beiden Schwager beim Bau der Straße nicht mehr arbeiten sollten.
Wir haben diesen Brief nicht ernst genommen und waren nicht sicher, dass der Brief von den Taliban war. Erst nachher haben wir verstanden, dass der Brief tatsächlich von den Taliban war und wir nicht weitermachen konnten, wie es vorher war. Mitte 2015 kamen die Taliban in unser Haus, haben uns brutal geschlagen. Die Verletzung dieses Angriffs trage ich an meiner Stirn. Ich lag daher zwei Wochen im Krankenhaus. Danach haben wir die Entscheidung getroffen, das Land zu verlassen. 16 Personen meiner Familie haben sich auf den Weg nach Europa, gemacht. Oktober 2015 sind wir in Wesel, Deutschland, angekommen.
Unsere Stationen waren zuerst Iran, dann Türkei, Griechenland, Makedonien, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich und endlich in Deutschland.

Yakup_Yalcinkaya Yakup Yalçınkaya (Künstler)
Ich bin am 02.06.1964 in Samsun/Türkei geboren und kam mit 4 Jahren mit meinen Eltern nach Deutschland. Mein Vater Aliriza war Bergbauarbeiter, meine Mutter Hayriye Hausfrau und Mutter von 8 Kindern.
Schon als ein kleines Kind hatte ich Interesse an Kunst. Da mein Papa mir kein Spielzeug kaufen wollte, sollte ich mir selbst etwas machen. Dafür benutzte ich meine Phantasie, ich wollte mich nicht von Comics und Büchern inspirieren lassen. In der Schule bin ich in Kunst und Sport meistens der Beste gewesen und im Mittelmaß in anderen Fächern.
In meiner Jugend war ich viel mit Künstlern zusammen gewesen, von denen ich viel gelernt habe. Da ich Geld brauchte, musste ich nach der Schule arbeiten. Ich beschäftigte mich nur mit Kunst. Mein Geld habe ich nebenbei verdient, meine Kunst wurde immer „besser“. Ich hatte mein erstes Bild für 15 DM verkauft. Ich machte auch Holzfiguren und Comics. Da ich von Dinosauriern begeistert war, baute ich auch solche, erst für mich, danach für Kunden und Bekannte. Mit 19 habe ich hatte ich mein erstes Bild an Verlage (Bastei) und andere verkauft. Ich konnte aber noch nicht davon leben. Erst als ich als Chef-Designer für einen Dinosaurier angefangen hatte, konnte ich davon leben. Jetzt kann ich es!
In diesem Sinne habe ich einen großen Dinosaurier für ein Museum in Hannover gemacht, wo er auch ausgestellt wird. Der von mir gebaute weltgrößte Dinosaurier wird in Argentinien ausgestellt.
Ich bin im islamischen Glauben erzogen worden und hatte viel mit der Gemeinde zu tun. Ich mache Bilder bei Kermes-Veranstaltungen und anderen ehrenamtlichen Anlässen. Ich bin auch in der Jugendkunstschule in Hamm als Dozent für „begabte Kinder“ tätig.
Mein Herzens Wunsch ist meinen eigenen Dinosaurier-Park zu gründen. Daran arbeite ich zurzeit. Ich bin verheiratet mit Inka Badde, einer lieben deutschen Frau.

Muhammad_Waqas Muhammad Waqas (Erzieher)
Ich heiße Muhammad Waqas. Geboren bin ich 2000 in der Näher von Sialkot/Pakistan, eine Stadt, die als Welthauptstadt der Sportbälle bekannt ist: Acht von zehn handgenähten Fußbällen kommen aus Sialkot. Es sind über 40 Millionen Fußbälle, die hier jährlich genäht werden. Ohne die ausbeuterische Kinderarbeit wäre es kaum möglich, soviel Bälle zu nähen. Bis zu meiner Flucht nach Europa 2015 habe ich das Nähen von Fußbällen leider gut kennengelernt. Von meinem siebten bis zu meinen 15 Lebensjahr habe ich zuerst im Hinterhof zu Hause und später in der Fabrik vor allem Fußbälle genäht. Der regelmäßige Besuch der Schule war dadurch kaum möglich. Meine Entscheidung, Pakistan zu verlassen, traf ich mit meiner Familie Mitte 2015 zusammen. Wir sprachen über die Sackgasse der Kinderarbeit und der Perspektivlosigkeit, in der ich mich befand und darüber was Europa mich ermöglichen würde.
Nach einer 11 Monate langen Odyssee zu Fuß über die Balkanroute kam ich Sommer 2016 in Deutschland an. Das erste Jahr war ein verlorenes Jahr. Untergebracht in einer Jugendgruppe gab es kaum Möglichkeit, die deutsche Sprache zu lernen oder etwas Sinnvolles zu betreiben. Die Isolation quälte mich und die Sehnsucht nach Hause war sehr groß. Als ich bei der Familien Girkens 2017 aufgenommen wurde, habe ich eine Wende meines Lebens erfahren. Ich lernte Deutsch und ging regelmäßig in die Schule, zuerst in die Freie Walddorfschule und später in das Franziskus-Berufskolleg, wo ich den Realschulabschluss schaffte und im Juli 2021 die Ausbildung als Erzieher erfolgreich abgeschlossen habe. Ohne diesen Abschluss wäre mein Aufenthalt in Deutschland gefährdet, da ich eine Bildungsduldung hatte. Seit August 2021 mache ich meinem Anerkennungsjahr im Sankt Georg Sozialwerk in Welver, wo ich mich sehr wohl fühle. Sehr glücklich bin ich auch in meinen ehrenamtlichen Tätigkeiten bei der Katholischer Studierenden Jugend (KSJ), dem Deutschen Roten Kreuz sowie beim Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung (FUgE). Seit Juni 2018 bin ich hier Bildungsreferent zu Pakistan und Kinderarbeit. In KITAs, Grundschulen und Bildungseinrichtungen in Hamm und Umgebung leitete ich Workshops über die Hintergründe von Flucht und Migration nicht nur in meiner Heimat. Viele Male war ich bei diesen Workshops durchgewühlt, da ich über die Not in meiner Familie und die wirtschaftlichen Zwänge reflektierte, die zu ausbeuterischer Kinderarbeit bei mir und meinen Geschwistern führte. Vor allem die Gewalterfahrung auf den Weg nach Deutschland u.a. in Ungarn und Mazedonien hat mich zum Teil traumatisiert.
Bei dieser Bildungsarbeit sprach ich aber auch über das teilweise sehr schöne bäuerliche Leben in meiner Familie in Pakistan sowie in meiner neuen Familie in Hamm, die mir das Gefühl geben, das ich eine neue Heimat gefunden habe.

Dilek_Dzeik-Erdogan Dilek Dzeik-Erdogan (Richterin)
Ich bin am 10. Januar 1989 in Hamm-Heessen geboren. Meine Geschichte ist demnach keine Geschichte des Zuwanderns im wörtlichen Sinne. Denn sie unterscheidet sich insoweit nicht von der Lebensgeschichte einer „Lisa“, die am selben Tag in Hamm oder gar in Deutschland geboren ist. Nur ist mein Mädchenname nicht „Müller“, sondern „Erdogan“. Denn ich bin die Tochter von Ahmet und Nazire Erdogan, die Ende der 70er Jahre mit 13 bzw. 17 Jahren im Zuge des Familiennachzugs ihr Heimatland – die Türkei – verließen und in die Bundesrepublik Deutschland kamen. Meine Großväter – ihre Väter – waren schon Anfang der 70er Jahre hierhergekommen, um als Bergmänner auf der Zeche dem zukünftigen Familienleben in Deutschland ihre, insbesondere finanzielle, Grundlage zu ebnen.
Kurz nach meiner Geburt zogen wir – meine Eltern, mein vier Jahre älterer Bruder und ich – gemeinsam mit meinen Großeltern und den vier Brüdern meines Vaters sowie deren Ehefrauen, meinen Tanten, von der Bergarbeitersiedlung am Vogelsang in ein Mehrfamilienhaus mit drei Wohnungen auf der Ahlener Straße in Heessen. Später kam meine fünf Jahre jüngere Schwester, mit der ich mir später lange Zeit ein Zimmer teilen sollte, und vier Cousins und Cousinen dazu. So wuchsen wir eine lange Zeit sozusagen in einer großen türkischen Wohngemeinschaft auf, in der die Wohnungstüren stets für alle offen waren und zunächst noch aus einer Familienkasse gehaushaltet wurde. Auch die Brüder meines Vaters, meine Onkel, waren – bis auf den jüngsten Bruder, der in meinem Geburtsjahr 1989 als erster der Familie sein Abitur machte und ein paar Jahre später sein Hochschulstudium als Ingenieur beendete – allesamt wie mein Vater Bergmänner …
Ich war schon in meiner frühen Kindheit daran gewöhnt, gegenüber meinen Freunden aus der Schule zu begründen, warum ich kein Schweinefleisch aß und kein Weihnachten und Ostern feierte und den Kindern aus der Moscheeschule zu erklären, warum ich und meine Mutter außerhalb der Moschee kein Kopftuch trugen. Gute Antworten fand mein Grundschul-Ich auf diese Fragen nicht. Deshalb boykottierte ich wahlweise das Schweinefleischverbot meiner Eltern oder trug zwischenzeitlich ein Kopftuch, um es dann wieder abzulegen, weil mich die Blicke unserer überwiegend deutschen Nachbarschaft irritierten.
Am Ende der vierten Klasse stellte mir mein Klassenlehrer, vor allem wegen meiner Defizite im Bereich des Lesens und Schreibens, eine Empfehlung für den Wechsel auf eine Real- oder Gesamtschule aus. Während für meine Grundschulfreunde außer Frage stand, dass sie auf die nahegelegene Realschule Heessen wechseln würden, stand für meinen Vater und damit auch für mich hingegen – trotz anderslautender Empfehlung des Klassenlehrers – ebenfalls außer Frage, dass ich es meinem jüngsten Onkel und meinem Bruder gleichtun und auf das Galilei-Gymnasium im Hammer Norden wechseln würde. Meine Mutter hatte in der Türkei nicht einmal die Grundschule besucht, mein Vater hatte gerade die türkische Mittelschule abschließen können. Dennoch oder gerade deshalb war vor allem mein Vater intuitiv davon überzeugt, dass das nachhaltige und zukunftsfähige „Ankommen“ seiner in Deutschland geborenen Kinder mit ihrer Bildung Stehen und Fallen würden. Zudem gab es für meinen Vater keinen einleuchtenden Grund, warum seine Töchter – im Vergleich zu „Lisa“, der Tochter seines Kollegen – nicht das Potential haben sollten, ebenfalls ein Gymnasium zu besuchen und erfolgreich abzuschließen. Schließlich hatte es sein Bruder, der nicht einmal in Deutschland geboren wurde, auch geschafft. Diese Ansicht stieß nicht auf wenig Widerstand: So verbrachte mein Vater nicht nur einen Nachmittag, sondern beim Wechsel meiner Schwester auf das Gymnasium aufs Neue einen weiteren Nachmittag, im Büro des Schulleiters, um diesen unermüdlich davon zu überzeugen, dass seine Kinder schon ihren schulischen Weg finden würden.
Mit der Bildungsbiographie meiner Eltern im Blick und dem Vertrauen meines Vaters im Rucksack habe ich das Gymnasium schließlich als einer der besten fünf Schülerinnen und Schüler meines Jahrgangs mit der allgemeinen Hochschulreife verlassen. Während meiner gesamten Schulzeit habe ich mir – anders als dies unzählige meiner Mitschülerinnen und Mitschüler aus bildungsnahen und „deutschen“ Familien offen und kritisch gegenüber dem Bildungssystem taten – dabei nie die aus meiner Sicht privilegierte Frage gestellt, wofür ich die Parabelberechnung in Mathe oder die Gedichtanalyse in Deutsch einmal im „richtigen“ Leben brauchen würde. Für mich war stets das Lernen um des Lernens willen genug Motivation. Genauso unbeirrt erzielte ich gute Noten bei den Lehrern, über die sich einige meiner „türkischen“ Mitschülerinnen und Mitschüler beklagten, schlechte Noten zu bekommen „nur weil sie Türken“ seien. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass sich meine jüngeren Cousinen und Cousins dem gleichen Beweis- und Rechtfertigungsdruck ausgesetzt fühlen müssten wie ich, weshalb ich nicht selten meine Nachmittage nach der Schule mit Nachhilfegeben in unserer türkischen Wohngemeinschaft verbrachte. Während der Schulzeit auf dem Gymnasium war für mich weniger meine Zuwanderungsgeschichte ein Thema, sondern mehr noch meine neue Rolle als junge Frau in einem muslimisch geprägten Umfeld. Denn mit etwa 13 Jahren hörte ich meine Oma das erste Mal sagen, ich dürfte nicht mehr länger ärmellose Kleidung tragen und müsse – anders als mein Bruder – zu Hause sein, wenn es draußen dunkel würde. Ganz zu schweigen von anderen Dingen, die für mich plötzlich nicht mehr möglich sein sollten. Mit diesen konstruierten Grenzen meines Menschseins durch den Fakt, dass ich allmählich zu einer Frau heranwuchs, konnte und wollte ich mich nicht abfinden. Ich fing an diese gut gemeinten Ratschläge zu hinterfragen und einfach zu ignorieren, sobald mir keine stichhaltige Begründung beigebracht werden konnte und erzog die „Älteren“ Stück für Stück in ihrer Haltung mit. 
Nach der Schule bekam ich über Umwege die Möglichkeiten, für ein paar Tage in den Arbeitsalltag eines Richters am Landgericht zu schnuppern. Nicht erst seit dem Fernsehformat „Richterin Barbara Salesch“ fand ich den Richterberuf interessant. Vielmehr waren es die politischen Dimensionen des Rechts oder die rechtlichen Grundlagen der Politik, die mich schon im Sozialwissenschaftsunterricht oder den politischen Diskussionen zu Hause mit meinem Vater am Wohnzimmertisch zu Esskastanien und türkischem Tee anzogen.
Zu meiner Überraschung aber konfrontierte mich der überaus engagierte und zugewandte Richter schon zu Beginn meiner Schnuppertage mit Diagrammen zu den unzähligen Juraabsolventinnen und -absolventen, die auf den ohnehin angespannten juristischen Arbeitsmarkt strömten, auf dem nur die besten 15 % der Absolventen die Chance auf eine Stelle im Staatsdienst oder in einer renommierten Kanzlei hätten. Kurzum: er riet mir von einem Jurastudium ab und empfahl mir stattdessen ein Ingenieursstudium mit weitaus besseren Zukunftschancen. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob er auch „Lisa“ von einem Jurastudium abgeraten hätte oder wie er zu der Annahme kam, ich würde nicht zu den Besten meines Jahrgangs gehören können.
So begann ich Ende 2009 mein Jurastudium an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, in einem Jahr, in dem die Einstellungssituation für Juristinnen und Juristen und vor allem für solche mit ausländischen Namen nicht schlechter hätten sein können. Denn kurz zuvor wurde eine Studie veröffentlicht, wonach angehende Juristinnen und Juristen mit ausländischem Namen trotz hervorragender Prädikatsexamen, wesentlich seltener eingestellt würden als solche mit deutschem Namen.
Im gleichen Jahr war ich das erste Mal zu einer Bundestagswahl wahlberechtigt. Doch mir reichte es nicht allein durch die Abgabe eines Kreuzes zur politischen Willensbildung beizutragen. Mich drängte es innerlich aktiv in einer Partei mitzuwirken, weshalb ich zugleich als Kind einer Arbeiterfamilie voller Überzeugung in die SPD eintrat und noch heute kommunalpolitisch aktiv bin.

Ende 2017 bewarb ich mich erfolgreich auf eine der freien Stellen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die der zigtausend erfolglos gebliebenen Asylverfahren der Flüchtlinge, die insbesondere ab 2015/2016 nach Deutschland kamen, geschuldet waren. Seit 2018 bin ich nun als Richterin am Verwaltungsgericht in Arnsberg tätig – bisher als einzige Richterin mit einer Zuwanderungsgeschichte.
Im Juni 2019 heiratete ich meine Jugendliebe – einen Deutschen mit schlesischem Nachnamen. Gemeinsam sind wir im April 2021 Eltern unserer wunderbaren Tochter Noura geworden – unserem Licht des Paradieses.
Meine Lebensgeschichte ist keine Geschichte des Zuwanderns im wörtlichen Sinne, aber sie ist dennoch eine Zuwanderungsgeschichte. Sie begann damit, dass meine Eltern fortgingen und sie wird weitergeführt als meine Geschichte des Ankommens. Es ist keine Geschichte des Ankommens in einem fremden Land, denn für mich bestand noch nie ein ernsthafter Zweifel daran, dass sowohl Deutschland als auch die Türkei meine Heimat sind, ohne dass ich darin einen Widerspruch erkenne. Für mich ist es vielmehr eine Geschichte des Ankommens in mir selbst als Kind zweier zum Teil stark widerstreitender Kulturen und Gesellschaftsformen, die es zu vereinen gilt, ohne sie zu leugnen. Noch heute wird mir in den absurdesten Situationen meine Zuwanderungsgeschichte, mein anders klingender Nachname, die Art, wie ich lebe oder meine Tochter erziehe etc., vorgehalten und erwartet, ich möge mich in einer bestimmten Weise positionieren und erklären. Dieser Erwartung komme ich und werde ich nicht (mehr) nachkommen. Und es ist mir ein inneres Bedürfnis mich abschließend an die vielen vor allem jungen türkischen Menschen, die in der dritten oder vierten Generation hier sind, zu richten, die sich von einer zur anderen kulturellen, zum Teil stark religiös oder weltanschaulich aufgeladenen Seite winden. Nicht selten verlieren sie in ihrer Haltlosigkeit die Orientierung und verirren sich einer radikalen Form der Abgrenzung, in die sie sich gedrängt fühlen. Diese Radikalisierung – in die eine oder die andere Richtung – ist gefährlich, denn an ihr drohen viele Persönlichkeiten ohne Not bereits jung zu zerbrechen. Niemand hat das Recht, von uns einzufordern und wir nicht die Pflicht, uns ständig dafür zu erklären oder gar zu beweisen, wie gut integriert wir auf der einen Seite und wie wenig angepasst wir auf der anderen Seite sind. Denn ich möchte, kann und darf in der freien Weise ankommen, in der sowohl das Abendland als auch das Morgenland Teil derselben Medaille, eines in sich ruhenden Ganzen sein können. Deshalb: Seid mutig für Euch zu beanspruchen, dass ihr sein dürft, wer ihr seid – hybride einzigartige Identitäten mit einer prall gefüllten Kiste an Erfahrungen und Perspektiven über den Tellerrand.

Die Veranstaltung fand im Rahmen der Interkulturellen Woche der Stadtbüchereien Hamm statt.
Mit der freundlichen Unterstützung des Kulturfonds der Stadt Hamm, des Programms für interkulturelle Öffnung im Regierungsbezirk Arnsberg und der Werkstadt für Demokratie und Toleranz Hamm.

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